Zwangsgedanken, Erschöpfung – Klinikaufenthalt (4. Kind)
Eigentlich hatte ich mir das ganz schön vorgestellt mit meinem vierten, zwar nicht geplanten, aber doch freudig erwarteten Kind – die anderen waren ja schon “aus dem Gröbsten heraus” und verständig, außerdem gut beschäftigt mit Schule und Kindergarten, da würde ich meinen Nachzügler so richtig genießen können.
Aber Carolin wurde ein Schreibaby. Den ganzen Tag und die halbe Nacht trug ich sie herum, wir fanden keinen Rhythmus und ich kam nicht zur Ruhe, denn wenn sie schon mal schlief, musste der Haushalt versorgt, die Geschwister zu Freunden oder in die Musikstunde gebracht oder Hausaufgaben besprochen werden. Und die “großen” Geschwister benahmen sich gar nicht vernünftig, sondern waren eifersüchtig, stritten um den besten Platz bei Mama und Papa, testeten Grenzen aus und ließen in der Schule nach. Natürlich bekam ich zu wenig Schlaf und viel zu viel Stress. Müde sieht die Welt so verwirrend aus und riesig und gefährlich. Ich fing an, mir Sorgen zu machen um meine Kinder, am liebsten hätte ich sie alle im meinen Bauch zurückgesteckt, damit sie keinen Schaden nehmen in dieser schlechten Welt. Der Tag bestand nur noch aus Arbeit, Mühe und Stress und ich hatte das Gefühl, ich muss immer schneller rennen, um auch nur halbwegs hinterherzukommen.
Irgendwann schreckte ich nachts aus dem Schlaf hoch und konnte stundenlang nicht mehr einschlafen. Dann bekam ich Atembeschwerden, Herzrasen und Nervenprobleme. Manchmal fühlte ich mich, als müsste ich gleich verbrennen, manchmal war es, als stünde ich unter Strom. Nur wenn ich weinte, und das tat ich ziemlich oft, ließ das Nervenbrennen nach. Mittlerweile schlief ich viele Nächte überhaupt nicht, und wenn ich nach Stunden eingeschlafen war, wachte ich bei jedem leisen Geräusch wieder auf. Die Nacht war dann oft vorbei für mich. Ich fühlte mich völlig kraftlos, zu gar nichts mehr fähig und musste mich doch da und dort hin schleppen. Eigentlich rechnete ich jeden Tag damit, dass ich vor Erschöpfung sterben würde, und das wünschte ich mir auch. Einfach nur Ruhe haben und alles ist vorbei. Aber da waren ja die Kinder, ich hatte sie doch auf die Welt gebracht und war für sie verantwortlich. Ich müsste sie doch mitnehmen in den Tod! Ganz ausführlich habe ich mir das ausgemalt in den vielen schlaflosen Nächten, wie ich sie ins Auto packe, wir fahren in die Bretagne bis an die riesigen Klippen an der Küste in Finisterre, dann nehmen wir uns an der Hand und ich sage: „Es tut überhaupt nicht weh!”
Ich wusste inzwischen auch, dass es eine Depression war, was mich so fest in der Zange hatte, aber ich wusste keinen Weg heraus. Heilpraktikerin und Akupunkteur hatten mir Pillen verschrieben, die nicht halfen – eine Kur konnte ich frühestens in drei Monaten bekommen, der Hausarzt konnte nichts feststellen außer einer leichten Abwehrschwäche, und die Psychologin wollte keinen Termin machen, solange ich mein Baby noch stillte und mitbringen müsste. Also rannte ich in meinem Käfig herum und stieß mich doch immer nur an den Stäben wund. Es war die Hölle, das Grauen, die Verzweiflung. Und meine Familie litt mit. Die Kinder waren verwirrt, besonders meine vierjährige Tochter entwickelte unzählige Ängste – keiner wusste genau, was mit mir los war und wie mir zu helfen wäre.
Bis nach fünf Monaten meine Kinderärztin merkte, dass etwas nicht in Ordnung war und zu mir sagte: “Sie brauchen doch Hilfe, nicht die Kinder, gehen Sie doch einmal in die Ambulanz in der Psychosomatik, vielleicht können die etwas für Sie tun!” Ich bekam dann einen Termin in der Psychiatrie, und als ich dort meine Probleme schilderte, sagte die Psychologin zu mir: “Eigentlich können wir Sie gar nicht mehr nach Hause lassen.” Sie telefonierte mit meinem Mann und mit der Klinik, und dann hatte ich mein Bett auf der Akutstation. Das war meine Rettung. Ich musste noch drei harte Wochen durchstehen, bis das Antidepressivum zu wirken begann, aber dann ging es steil bergauf, und nach fünf Wochen konnte ich völlig symptomfrei und glücklich nach Hause gehen. Ich hatte einen sehr guten Psychiater, der es verstanden hat, mir immer die nötige Unterstützung zu geben und der mir vertraut hat. So habe ich auch wieder gelernt, auf mich zu hören und meine innere Stimme zu beachten, was mir sehr geholfen hat.
Das Antidepressivum habe ich sehr gut vertragen und die Beruhigungsmittel konnte ich bald wieder absetzen. Auch die vielen begleitenden Therapieformen wie Musik, Sport, künstlerisches Gestalten oder Konzentrationstraining haben mir sehr gut getan. Ich habe in der Klinik viele sehr liebe, interessante Menschen kennen gelernt und sehr intensive und tiefe Gespräche geführt, die für mich sehr wichtig waren. Es war gut zu erfahren, ich kann in die Klinik gehen, wenn ich nicht mehr weiter weiß – ich brauche keine Angst davor zu haben und dort kann mir geholfen werden.
Auch meine Familie war wie ausgewechselt. Carolin hatte sich prima an Papa, Brei und Fläschchen gewöhnt, gleich in der ersten Woche ohne Muttermilch durchgeschlafen und war ein ruhiges und friedliches Baby geworden. Die Geschwister hatten bemerkt, dass man mit ihr viel Spaß haben kann und waren zur Ruhe gekommen, und dass es nicht ganz so sauber war wie sonst, schadete niemandem! Ich konnte gleich anschließend an den Klinikaufenthalt mit den zwei mittleren Kindern in Kur gehen, bekam danach noch vier Wochen eine Haushaltshilfe und begleitende Unterstützung durch eine Familientherapeutin. So unterstützt konnte ich mich sehr gut erholen und endlich mein Baby und seine Geschwister genießen – und das Leben! Wie sah doch allen anders aus mit Kraft und Mut genug zum Leben! Ganz vielen Menschen bin ich unendlich dankbar dafür, dass sie mir geholfen haben, diese schwerste Zeit in meinem Leben durchzustehen und zu überwinden.
Wenn ich im Bekanntenkreis von meiner Krankheit erzählte, hörte ich oft: “Ja, das kenne ich auch!”, “Meine Freundin hatte das”, “Das muss bei meiner Mutter auch so gewesen sein” und so weiter. Selbst einige meiner guten Freundinnen waren betroffen gewesen, ohne dass ich es gewusst hatte. Depressionen nach einer Geburt sind gar nichts Seltenes, ungefähr zehn bis fünfzehn Prozent aller Mütter sind betroffen! – Aber ich hatte nach vier Geburten noch nie etwas davon gehört. Kein Arzt, keine Hebamme, kein schlaues Eltern-Heft erwähnt diese Hölle. Da musste doch etwas geschehen! Schließlich ist diese Art der Depression sehr gut und sehr schnell heilbar, unzähligen Müttern und ihren Familien könnte durch gezielte Aufklärung unendliches Leid erspart werden.
Durch ein Buch in unserem Mütterzentrum stieß ich auf die Adresse des Vereines “Schatten & Licht”, gegründet von betroffen Frauen und Angehörigen. Der Verein war erst vor wenigen Jahren entstanden und bietet Information, Kontakte und Hilfen bei Krisen nach einer Geburt. Außerdem ist es ein großes Anliegen, das Informationsdefizit in der Öffentlichkeit abzubauen.
Genau das, was ich suchte! Im Oktober letzten Jahres nahm ich an der Jahresversammlung des Vereines teil, lernte viele starke und mutige Frauen kennen und erhielt viele Anregungen und Informationen zur Gründung einer Selbsthilfegruppe, die es bei uns noch nicht gab.
Bis ich in Bewegung kam, hat es noch einige Zeit und ein paar Anschubser gebraucht, zum Beispiel den Anruf einer akut betroffenen Frau, die meine Adresse über das Internet bekommen hatte, oder der Einladung über das Mütterzentrum zu einem Forum für Selbsthilfe-Initiativen. Im März konnte ich einen kurzen Bericht über mein Anliegen in der Zeitung veröffentlichen, was viel Resonanz und den entscheidenden Anstoß zur Gründung einer Selbsthilfegruppe gegeben hat. Inzwischen habe ich etwa zehn Frauen besucht, mit einigen intensive Telefongespräche geführt, und acht Frauen wollen sich regelmäßig treffen. Wir hatten mittlerweile vier Treffen, wo wir uns kennengelernt, unsere Babys bewundert und in sehr offener und liebevoller Atmosphäre unsere “Leidensgeschichten” ausgetauscht haben. Es war sehr schön für mich zu sehen, wie vertrauensvoll “meine Frauen” miteinander umgingen, und auch, wie viel besser es der einen oder anderen mit der richtigen Therapie ging. Einen Raum für unsere Treffen und gleichzeitig ein Informationsforum bietet unser Mütterzentrum.
Für die Zukunft haben wir noch viel vor, zum Beispiel Informationsarbeit bei Ärzten, Hebammen und Vereinen, den Austausch über geeignete und ungeeignete Therapieformen und Therapeuten, und noch einmal einen größeren Bericht in der Zeitung. Wir sind alle sehr motiviert und wünschen uns ganz viele offene Ohren für unser Anliegen!